Stromversorgungssicherheit in der Zukunft oder "Werden wir genug Strom haben?"

Energieversorgungssicherheit bedeutet, dass die Verbraucher*innen jederzeit die gewünschte Energiemenge beziehen können, in der erforderlichen Qualität und zu erschwinglichen Preisen (IEA, 2024). In einem Energiesystem, das auf fossile und nukleare Treib- und Brennstoffe setzt, geht es dabei vor allem um die Frage, woher Kohle, Öl, Gas oder Kernbrennstoffe kommen und zu welchen Preisen. Die Preise dieser Energieträger werden durch die Dynamik globaler Märkte bestimmt, während die Verfügbarkeit vor allem von der Infrastruktur für Transport und Verteilung abhängt. In einer fossilen Welt ist Versorgungssicherheit vor allem eine geopolitische Herausforderung. Das hat nicht zuletzt die Energiekrise von 2022/23 verdeutlicht.

Mit dem Übergang zu einem Energiesystem, in dem Strom und Erneuerbare die Hauptrolle spielen, wird das Wetter zu einem wichtigen Thema, denn auch wenn viele erneuerbare Energien wetterabhängig sind, müssen Stromausfälle weiterhin vermieden werden. Damit wird die künftige Versorgungssicherheit zu einer hauptsächlich physikalischen und weniger geopolitischen Herausforderung, obwohl wir auch in Zukunft von ausländischen Rohstoffen abhängig sein werden, z.B. von kritischen Mineralien.

Elektrizität ist ein ungewöhnliches Gut. Zu jedem Zeitpunkt muss die ins Netz eingespeiste Strommenge genau der nachgefragten Strommenge entsprechen. Um Angebot und Nachfrage auszugleichen, wird ständig Strom von einem Ort zum anderen transportiert. Ist in einer Region die Nachfrage höher als die Erzeugung, muss Strom aus einer anderen Region fliessen, in der genügend ungenutzte Erzeugungskapazitäten vorhanden sind. Deshalb endet unser Stromnetz nicht an der Schweizer Grenze, sondern ist an 41 Stellen mit dem benachbarten Ausland verbunden. In diesem Verbundsystem fliesst zu jeder Zeit Strom über die Schweizer Grenzen und die Schweizer Versorger sind ständig in den europäischen Stromaustausch eingebunden.

Der Handel zwischen anderen Ländern im europäischen System beruht auf derselben Idee. Das europäische Verbundnetz, an dem heute über 30 Länder beteiligt sind, geht auf das Jahr 1958 zurück, als die 220-Kilovolt-Netze Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz in Laufenburg (Schweiz) zusammengeschlossen wurden (Swissgrid, 2024a). Seither haben die europäischen Länder ihre Stromsysteme erheblich weiterentwickelt. Der Verbund dient nicht nur dem internationalen Stromhandel, sondern er verringert auch die Wahrscheinlichkeit von Stromausfällen, weil z.B. bei Problemen mit einer Leitung viele Alternativleitungen zur Verfügung stehen. Der Stromhandel bietet also viele Vorteile. Er erhöht die Versorgungssicherheit und senkt die Kosten für alle Beteiligten.

In Strommärkten sind Importe und Exporte ganz normal

Waren werden importiert, wenn es billiger ist, als sie vor Ort zu produzieren. Diese einfache wirtschaftliche Logik gilt auch für Strom. Bestimmte Energiequellen sind in manchen Ländern billiger oder in grösserem Umfang verfügbar, so dass es vorteilhaft ist miteinander zu handeln. Zum Beispiel kann ein Land eigene Kohle- oder Gasvorkommen nutzen, während ein anderes Land gute topografische Bedingungen für die Wasserkraft hat. Mit erneuerbaren Energien wird der grenzüberschreitende Stromhandel weiter an Bedeutung gewinnen. Der Beitrag einheimischer erneuerbarer Energien hängt von den geografischen und klimatischen Bedingungen ab: Windturbinen ohne Wind oder Solarzellen ohne Sonne erzeugen keinen Strom. In einem grossen Verbundsystem mit unterschiedlichen Wetterzonen – wie dem Europäischem – sind die einzelnen Länder weniger abhängig von den jeweiligen örtlichen Wetterbedingungen.

Die Schweizer Versorger treten im europäischen Stromhandel nicht nur als Importeure auf. In acht der letzten zwanzig Jahre hat die Schweiz mehr Strom exportiert als importiert (BFE, 2024, siehe auch  Abbildung 7). Häufig exportiert die Schweiz im täglichen Handel sogar während der Wintermonate. In dieser Jahreszeit gilt jedoch normalerweise, dass die Importe die Exporte insgesamt übersteigen. Es wird im Winter also netto Strom importiert.

Strom kennt keine Grenzen

Im europäischen Verbundnetz fliesst Strom jederzeit über Ländergrenzen hinweg. Diese Stromflüsse sind nicht vollständig kontrollierbar, weil Strom immer den Weg des geringsten Widerstands nimmt und keine Ländergrenzen kennt. Manche der Stromflüsse beruhen auf Handel, andere entstehen durch das regionale Zusammenspiel von Erzeugung und Verbrauch.

Wird Strom zwischen zwei Ländern gehandelt, fliesst nur ein Teil davon auf direktem Weg. Ein anderer Teil fliesst über die Nachbarländer, weil alle bestehenden Verbindungen zwischen den Ländern in einem gewissen Masse genutzt werden. Diese parallelen Stromflüsse werden als Ringströme (englisch: Loop Flow) bezeichnet (sie bilden einen ‘Ring’ um die Hauptverbindung, wie im Beispiel der Abbildung 6 der Stromfluss durch Land C). Hinzu kommen Transitflüsse – Strom, der ein anderes Land durchqueren muss, um sein Ziel zu erreichen (wie in Abbildung 6 im Fall des direkten Stromflusses durch Land D). Das kann man mit Tourist*innen aus dem Norden Europas vergleichen, die durch die Schweiz reisen, um ihre Ferien in Italien zu verbringen. Die Schweiz gehört in Europa zu den Ländern mit dem höchsten Anteil solcher Ring- und Transitflüsse. Das liegt daran, dass ein grosser Teil der deutschen und französischen Exporte nach Italien durch die Schweiz fliesst, entweder direkt oder als Ringfluss. Im Jahr 2023 z.B. beliefen sich die Transitflüsse auf ca. 21.6 TWh, während der Schweizer Stromexport netto gesehen nur etwa 5.9 TWh betrug, Swissgrid 2024b). Diese ‘zusätzlichen’ Stromflüsse sind aus physikalischen Gründen unvermeidlich und sie begrenzen die Verfügbarkeit von Übertragungsleitungen für andere Stromflüsse.

Die ständig wechselnden Stromflüsse in alle Richtungen und über Landesgrenzen hinweg verdeutlichen einmal mehr, dass Strom ein ungewöhnliches Gut ist. Selbst wenn die Schweiz den internationalen Handel komplett einstellen würde, würde immer noch Strom über unsere Grenzen fliessen.

Abbildung 6: Stilisierte Beziehung zwischen Handel und physischen Strömen (eigene Darstellung).

 

Europa profitiert von der Flexibilität der Schweizer Wasserkraft

Unsere grossen Speicherseen und Pumpspeicherkraftwerke dienen nicht nur der Deckung des eigenen Bedarfs, sondern ermöglichen es der Schweiz auch, immer dann Strom zu exportieren, wenn Europa besonders viel Energie benötigt. Die meisten europäischen Länder haben keine vergleichbaren Flexibilitätsreserven. Dadurch werden die Wasserkraftbetreiber der Schweiz zu „Problemlösern“ im deutlich grösseren europäischen Elektrizitätssystem (Weigt et al., 2022). Sie liefern kurzfristig Strom in Stunden, in denen die Preise besonders hoch sind, weil die Versorgungslage in Europa kritisch ist. Europa profitiert von diesen Fähigkeiten der vergleichsweise kleinen Schweiz. Deshalb ist der Einbezug der Schweiz ins europäische Verbundnetz nicht nur für die Schweiz selbst von Bedeutung, sondern auch für die anderen Teilnehmer*innen.

Für die Energiewende muss die Schweiz weitere Bereiche – insbesondere Verkehr und Wärme – elektrifizieren. Dadurch ist bis 2050 mit einer Erhöhung des Stromverbrauchs zu rechnen (z.B. auf ca. 75-95 TWh in SWEET-CROSS). Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass die bestehenden Schweizer Kernkraftwerke auf lange Sicht stillgelegt werden. Aus Gründen des Ersatzes und des Ausbaus benötigt die Schweiz also in erheblichem Umfang neue Erzeugung. Diese wird in erster Linie aus erneuerbaren Energien, vorwiegend Photovoltaik, stammen. Aber wie kann ein Stromsystem mit einem hohen Anteil wetterabhängiger erneuerbarer Erzeugung die Versorgungssicherheit aufrechterhalten? Diese Frage wird politisch lebhaft diskutiert und ist ein wichtiges Thema für die Energieforschung, nicht nur in der Schweiz.

Weniger fossile Importe durch Elektrifizierung

Um das Netto-Null-Ziel zu erreichen, müssen die fossilen Energieträger vor allem aus einheimischen erneuerbaren Quellen ersetzt werden. Die Elektrifizierung des Schweizer Energiesystems wird die Abhängigkeit von Importen fossiler Treib- und Brennstoffe schrittweise verringern. Unklar ist noch, ob und in welchem Umfang wir andere Brennstoffe importieren werden, z.B. synthetische Brennstoffe und Wasserstoff.

Spätestens 2050 sollen gar keine fossilen Treib- und Brennstoffe mehr eingeführt werden. Bis dahin wird die Menge der Importe davon abhängen, wie schnell die erneuerbaren Energien die fossilen ersetzen. Solange Erdöl, Erdgas und Kernbrennstoffe genutzt werden, bleibt die Schweiz auf entsprechende Importe angewiesen, weil wir für diese Energieträger keine eigenen Vorkommen haben.

Die Versorgungssicherheit wird auch davon abhängen, wie vielfältig die Energiequellen sind, die wir im zukünftigen Technologiemix nutzen. Viele Energiequellen könnten sich ergänzen, z.B. Wasserkraft, Windkraft, Sonnenenergie, Biomasse, Kehricht oder synthetische Brennstoffe.

Der Stromhandel bleibt wichtig

Die tragenden Säulen der zukünftigen Schweizer Stromversorgung, Wasserkraft und Photovoltaik, erzeugen den grössten Teil ihres Stroms im Sommer, obwohl der Strombedarf im Winter höher ist als im Sommer. Hinzu kommt, dass die Nachfrage im Winter durch die Elektrifizierung des Wärmebereichs voraussichtlich weiter steigen wird. Auch deshalb bleiben Stromimporte und -exporte weiterhin zentral für die Schweizer Stromversorgung. Sie ergänzen die inländische Flexibilität, die vor allem durch die Wasserkraft bereitgestellt wird.

Die Nettostromimporte (d.h. die Differenz zwischen allen Importen und Exporten im Laufe des Jahres) im Jahr 2050 hängt auch davon ab, welche erneuerbaren Energien mehr und welche weniger genutzt werden. Folglich gibt es in aktuellen Studien (Schwarz et al., 2023; Panos et al., 2023; Energieperspektiven 2050+ (BFE, 2021); Marti et al. 2022) eine grosse Bandbreite der erwarteten Nettoimporte, zwischen 0 TWh und 16 TWh im Jahr 2050. Zum Vergleich: Im letzten Jahrzehnt hatte die Schweiz maximal 5.6 TWh als Nettoimport und in der Hälfte der Jahre sogar einen Exportüberschuss von bis zu 6.3 TWh (im Jahr 2019, vgl.  Abbildung 7). Die Importe fossiler Energieträger sind wesentlich grösser. Im Jahr 2022 waren es ca. 100 TWh bei Erdöl und Mineralölprodukten und ca. 30 TWh bei Erdgas (BFE, 2023).

Abbildung 7: Jährliche Bilanz des grenzüberschreitenden Stromhandels in der Schweiz 2013-2022: Importe minus Exporte in TWh (Quelle: BFE, 2024)

Wissenschaft und Politik beschäftigen sich besonders mit der Versorgungssicherheit im Winterhalbjahr. Laufwasserkraft und Solarenergie liefern im Winter durchschnittlich weniger Strom, obwohl dann wegen des zusätzlichen Bedarfs für Raumwärme der Stromverbrauch am höchsten sein wird. In den Sommermonaten ist es gerade umgekehrt (siehe Abbildung 8). Deshalb ist die Sicherung der Versorgung im Winter ein wichtiges Thema für das künftige Schweizer Stromsystem.

Abbildung 8: Stromproduktionsprofile von Wasser-, Wind- und Sonnenenergie – Schweiz 2017-2018 in % der Jahresproduktion (Quelle: BFE Windenergie).

Wasserkraft bleibt die tragende Säule der Versorgungssicherheit

Die meisten Energieszenarien für die Schweiz (z.B. SWEET-CROSS, Schwarz et al., 2023; Panos et al., 2023; Energieperspektiven 2050+ (BFE, 2021); Marti et al. 2022) stimmen darin überein, dass die Schweizer Versorger im Winter weiterhin mehr Strom importieren als exportieren werden, unabhängig davon, wie die Stromhandelsbilanz über das komplette Jahr aussehen mag. Die aktuelle Versorgungssicherheitsstudie des BFE (‘System Adequacy’, Weigt et al., 2022, siehe auch die Studien zum Thema Versorgungssicherheit der Elcom), welche die Erzeugungs- und Systemkapazitäten für die Jahre 2035 und 2040 untersucht, zeigt unter der Annahme ausreichender Importmöglichkeiten, dass die Schweizer Stromversorgung gesichert ist. Das gilt auch für Extremsituationen wie einen besonders kalten europäischen Winter, eine zweiwöchige Dunkelflaute in Europa (bewölkter Himmel, kein Wind), einen Ausfall aller Schweizer Kernkraftwerke, einen starken Rückgang der Stromerzeugung aus französischen Kernkraftwerken und Verzögerungen beim Ausbau des Stromnetzes.

Die Widerstandsfähigkeit des Schweizer Stromsystems stützt sich auf den hohen Wasserkraftanteil und die damit verbundene Flexibilität. Die Wasserkraftanlagen ermöglichen es, immer dann zu importieren, wenn Energie im europäischen Netz verfügbar ist (z.B. aufgrund von Überschüssen aus erneuerbarer Stromerzeugung oder geringer Nachfrage) und sei es nur vorübergehend. Wann immer das Ausland nicht liefern kann, greifen wir auf die Wasserreserven (aus der Frühjahrsschmelze und aus den Sommermonaten) in den Stauseen zurück, um unseren Bedarf zu decken. Durch diese Flexibilität können die Schweizer Stromversorger auch in Zeiten sehr hoher Nachfrage genügend Strom liefern. Pumpspeicherkraftwerke und die zunehmende Verbreitung von Batterien sorgen zusätzlich für kurzfristige Flexibilität. Jede zusätzliche einheimische Erzeugung im Winter (z.B. aus Wind, alpiner Photovoltaik, Biomasse usw.) erhöht die Gesamtflexibilität der Wasserkraft, weil sie weiteren „Spielraum“ schafft. So können auch extreme Situationen bewältigt werden.

Dafür ist entscheidend, dass Importe generell während des gesamten Winters möglich sind. Dazu muss die Schweiz gut in das europäische Handelssystem eingebunden sein und es muss genügend freie Kapazitäten für grenzüberschreitende Handelsströme geben. Für die Schweiz vergleichsweise unbedeutend ist, ob Importe zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt verfügbar sind.

Weitere Optionen die Versorgungssicherheit im Winter zu erhöhen

Wenn Importe, aus welchen Gründen auch immer, erheblich eingeschränkt würden, könnte es bei der Stromversorgung zu schwierigen Situationen kommen, aber auch in diesem Fall gäbe es Wege, um Versorgungsunterbrüche zu vermeiden oder zumindest einzugrenzen:

  1. Eine tiefere Energienachfrage im Winter erleichtert insgesamt die Versorgung: Weil der Strombedarf vermutlich aufgrund der zusätzlichen Nachfrage aus den Bereichen Wärme und Verkehr steigen wird, wird es wichtig sein, die Energieeffizienz zu verbessern und anderweitig Energie zu sparen. Studien legen nahe, dass durch gesellschaftliche Neuerungen und kulturellen Wandel Wohlbefinden für alle in der Schweiz mit deutlich weniger Energie als heute erreicht werden kann (Millward-Hopkins et al., 2020; Nick, 2024 forthcoming).
  2. Erhöhung der inländischen Stromerzeugung: Jede zusätzliche kWh, die im Winter erzeugt wird, schont die Wasserkraftreserven für Zeiten, in denen Strom knapp ist. So tragen auch klassisch nach Süden ausgerichtete PV-Dachanlagen im Winter zur Versorgungssicherheit bei. Windparks erzeugen hierzulande in den Wintermonaten mehr Strom als im Sommer und könnten deshalb Systeme mit hohem PV-Anteil gut ergänzen. Auch alpine Photovoltaik liefert im Winter deutlich mehr Strom, weil dann die Bedingungen in Bergregionen besser sind (siehe z.B. SWEET EDGE Renewable Outlook). Zusätzliche thermische Kraftwerke könnten ebenfalls im Winter Strom erzeugen. Allerdings müssten sie klimaneutral betrieben werden, um CO2-Emissionen zu vermeiden. Das wäre zum Beispiel mit synthetischen Brennstoffen, grünem Wasserstoff oder Biogas möglich. Würden diese Brennstoffe im Inland bereitgestellt, müssten zuvor die Erzeugungskapazitäten der Erneuerbaren ebenso wie die Speicherkapazitäten erheblich ausgebaut werden, was sehr teuer sein dürfte (Bauer et al., 2022). Würden sie hingegen importiert, wären die Schweizer Stromversorger weiterhin auf Brennstofflieferungen aus dem Ausland angewiesen. Bei Brennstoffen wird das Risiko von Versorgungsunterbrüchen durch politische und andere externe Faktoren höher eingeschätzt als beim Strom (ESC, 2023). Konventionelle Gaskraftwerke könnten weitgehend klimaneutral betrieben werden, wenn es gelänge, das entstehende CO2 abzufangen und sicher zu speichern. Doch auch in diesem Fall müsste der Brennstoff importiert werden, ebenso wie bei Kernkraftwerken.
  3. Überschüssigen Sommerstrom für den Winter speichern: Aufgrund der hohen Sommerproduktion von PV-Anlagen besteht theoretisch die Möglichkeit, einen Leistungsüberschuss im Sommer für die spätere Nutzung im Winter zu speichern. Wahrscheinlich wird es aber wirtschaftlich nicht sinnvoll sein, zusätzlich grosse Strommengen zu speichern, um die saisonalen Schwankungen auszugleichen, sei es mit Pumpspeichern oder Batterien (SCNAT, 2022; Bauer et al., 2022). Solche Anlagen eignen sich besser dafür, stündliche und tägliche Differenzen im Stromsystem auszugleichen. Überschüssiger Sommerstrom könnte auch zur Herstellung von Wasserstoff oder synthetischen Brennstoffen verwendet werden, die gespeichert und später in Kraftwerken zur Stromerzeugung eingesetzt werden könnten. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob diese Technologien in der Schweiz wirtschaftlich betrieben werden können (SCNAT, 2022; Bauer et al., 2022, ESC, 2024).

Angesichts der weiterhin hohen Bedeutung des Stromhandels, sowohl für die Schweiz als auch für unsere Nachbarn, braucht der Energiesektor ein gutes Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union. Obwohl der Strom im gemeinsamen Verbundnetz ständig fliesst, besteht bis heute kein bilaterales Stromabkommen mit der EU. Deshalb ist die Schweiz auch nicht an den politischen Entscheidungen zur Vollendung des harmonisierten EU-Binnenmarktes für Strom beteiligt. Ob die Schweiz ihre Versorgung auch auf Stromimporte aus Europa stützen kann, hängt davon ab, ob 1) in Europa genügend Strom vorhanden ist, wenn er in der Schweiz gebraucht wird, und ob 2) die Schweizer Versorger Zugang zum europäischen Strommarkt haben, um diesen Strom zu importieren.

Die Dynamik der Erneuerbaren formt auch das europäische Stromsystem

Die Schweiz ist nicht allein auf dem Weg zu Netto-Null bis 2050. Auch Europa plant die Energiewende. Wie in der Schweiz werden auch in Europa erneuerbare Energien die neue tragende Säule des Energiesystems sein. Dementsprechend wird auch die europäische Erzeugung stärker vom Wetter abhängen als heute.

Ein Systemmix aus verschiedenen erneuerbaren Energien ist besser in der Lage, die Nachfrage jederzeit zu decken. Setzen die Länder auf unterschiedliche erneuerbare Quellen, werden regionale Überschüsse wahrscheinlicher, die dann exportiert werden können. Abbildung 9 zeigt beispielhaft die Zusammensetzung der Erzeugung und die Nachfrage in der Schweiz und in den Nachbarländern für jeden Monat des Jahres 2050. Natürlich ist ein solches Beispiel keine präzise Voraussage. Die Energiesysteme der Schweiz und ihrer Nachbarländer könnten sich anders entwickeln, schon weil noch nicht alle Länder entschieden haben, wie sie das gemeinsame Netto-Null-Ziel genau erreichen wollen (siehe u.a. auch Lienhard et al., 2023).

Die Grösse Europas ermöglicht zudem den Ausgleich von Produktionsdefiziten nicht nur über verschiedene Technologien, sondern auch über die Variation im lokalen Wetter (d.h. die Wolkenbildung und Windverhältnisse sind in Europa nicht einheitlich; siehe z.B. Grams et al., 2017). Das erhöht die Chancen auf lokale europäische Stromüberschüsse, was wiederum Importe für die Schweiz erleichtert. Mit anderen Worten: Europa hat wahrscheinlich häufig genug Energie für den Schweizer Bedarf, auch wenn das Energiesystem grösstenteils von Erneuerbaren bestimmt wird.

Abbildung 9: Exemplarische monatliche Stromerzeugung in der Schweiz und in den Nachbarländern im Jahr 2050 (Quelle: Schwarz, 2022)

 

Die EU treibt die Energiewende entschlossen voran

Die EU treibt Energiewende und Marktintegration voran. Die Mitgliedstaaten müssen bis 2025 das Massnahmenpaket «Saubere Energie für alle Europäer» (Clean energy for all Europeans package) umsetzen. Es enthält unter anderem Massnahmen, die den Handel zwischen den EU-Mitgliedstaaten stärken sollen. Noch ungeklärt ist der Status von Nicht-Mitgliedstaaten. Die im Paket enthaltenen Vorgaben für Stromhandel zwischen den Mitgliedstaaten könnten den Handel mit Drittstaaten beeinträchtigen, und damit auch den Stromhandel mit der Schweiz. Die Kapazitäten für Importe und Exporte könnten sich so verringern. Ausserdem könnte zunehmender Handel innerhalb der EU das Schweizer Netz durch zusätzliche Stromflüsse in Form von Ring- und Transitflüssen belasten.

Ein bilaterales Stromabkommen zwischen der Schweiz und der EU würde den grenzüberschreitenden Stromhandel erleichtern und die Versorgungssicherheit stärken (Frontier Economics, 2021). Hilfreich sind auch private Verträge zwischen dem Schweizer Übertragungsnetzbetreiber Swissgrid und den benachbarten Netzbetreibern. Einige wurden bereits unterzeichnet. Sie bieten aber auf lange Sicht noch keine verlässliche Grundlage. Nicht nur die Schweiz hat ein ureigenes Interesse an einem umfassenden Abkommen, sondern auch die EU. Die Schweizer Wasserkraft ist in Europa gefragt, denn den meisten Mitgliedstaaten fehlt vergleichbare Flexibilität in ihren Stromsystemen. Würden die Nachbarländer dagegen ihre eigenen Stromspeicher ausbauen, könnte der Wert der Schweizer Speicherkraftwerke zurückgehen (Schwarz, 2022).

Grundsätzlich wird die Schweiz die Entwicklungen berücksichtigen müssen, die sich daraus ergeben, dass die Europäische Union ihre Energiewende vorantreibt.

Prof. Dr. Hannes Weigt

University Basel

Peter Merian-Weg 6

4052 Basel